Nawal - 2. Kapitel
Wie wir im Wasser über Berggipfel fliegen und warum in der Camargue die Stiere die Helden der Arena sind, liest du in diesem Artikel.
Unterwasserberg bei Cavalaire-sur-Mer
Während der 6-stündigen Segelstrecke von St. Tropez in Richtung Hyères meint Torsten plötzlich: «Interessant, die Maximaltiefe ist hier plötzlich nur noch 8m, vorher lag sie bei über 75m!»
Schnell merken wir, dass es sich um den Gipfel eines Unterwasserbergs handelt. Weisse Bojen zeigen an, wo die Untiefe beginnt. Frech machen wir Nawal an einer diesen Bojen fest (natürlich haben wir vorher geprüft, ob es Mooringbojen sind, die das tonnenschwere Gewicht von Nawal auch halten können), um schnorcheln zu gehen.
Es ist ein bisschen gruselig, mitten im Meer zu schnorcheln. Als wir reinspringen, sehen wir nichts ausser blau. Vom Hellblau an der Oberfläche verläuft sich die Farbe bis ins Nachtschwarz unter unseren wirbelnden Flossen. Blue-out nennt man es, wenn rundherum nur blau zu sehen ist und man keine Orientierungspunkte mehr ausmachen kann.
Doch plötzlich tauchen die ersten Umrisse auf. Wir sehen Felsen und einen riesigen Fischschwarm, der sich im spärlichen Seegras tummelt. Die Stimmung ist mystisch und die Go-Pro klickt ununterbrochen. Was für ein unbeschreibliches Gefühl, mitten im Mittelmeer um einen Unterwassergipfel zu ‘fliegen’.
Ile de Porquerolles
Über Nacht ankern wir in der proppenvollen ‘Baie de l’Alycastre’.
Am nächsten Morgen ziehen wir das halbwegs funktionierende Dinghy an Land, um die Ruine des ehemaligen ‘Fort de l’Alycastre’ zu besichtigen.
Da es sich nach Tagen auf dem Boot gut anfühlt, die Beine auf festem Boden zu bewegen, marschieren wir anschliessend zügig weiter in Richtung Porquerolles.
Der Schweiss rinnt - genauso wie die Zeit - und so bleiben uns leider nur knappe 15 Minuten, um das wunderschöne Dorf zu besichtigen. Im Stechschritt marschieren wir die 1,5h zurück, dann heisst es ablegen und Kurs auf die Marina zu nehmen. Wir müssen erneut unsere Süsswassertanks auffüllen.
Wie wir vor Toulon für Hafenkino gesorgt haben
Um den Dinghymotor zu flicken, wollen wir kurz vor Toulon bei einem Hafen festmachen. Dazu werden meist die Fender (Plastik-Stossdämpfer) an den Seiten angebracht und die Festmacherleine vorne und hinten auf die Klampen gelegt.
Wir wissen, dass das Anlegemanöver heute eher heikel wird, da viel Wind von der Seite her drückt. Aber mit Torsten haben wir einen Profi als Kapitän und die Leute im Hafen helfen meist tatkräftig mit. Im Hafen sehen wir, dass es dieses Mal ein rückwärts-an-den-Steg-Anlegen wird, mit einer Mooringboje, die vorne am Bug festgemacht werden muss.
Theoretisch keim Problem: Jemand steuert, jemand macht hinten fest und jemand vorne. Naja, theoretisch.
Als ich die Mooringleine mit dem Boothaken fischen will, hat sich da schon eine Fischerleine mit einem Widerhaken daran verfangen. Diese wiederum verfängt sich am Haken und als ich sie lösen will, fällt mir die Leine zurück ins Wasser. Bis ich sie wieder raufgefischt habe ist Nawal vom Wind schon mit der ganzen Seite an den Pier gedrückt worden - nicht gut!
Die Leute vom benachbarten Boot schreien uns Tipps zu, die Leute auf dem kleinen Speedboot rufen noch lauter ihre Ideen rüber - das Chaos ist perfekt.
Doch Torsten bleibt cool, gibt genaue Anweisungen und ein paar Minuten später ist Nawal wieder ausgerichtet und ich erwische jetzt die Leine, ohne mich am Fischerhaken zu verheddern. Puuh, noch mal gut gegangen!
La-Seyne-sur-Mer
Wir ankern vor einer Steilküste, neben uns liegt nur ein anderes Boot. Im Sonnenuntergang plantschen wir vergnügt, bis plötzlich eine Stimme auf Französisch fragt: «Est-ce que vous avez de l’alcool? Du vin ou de la bièr?»
Da ist jemand vom anderen Boot den ganzen weiten Weg zu uns geschwommen, nur um uns ein paar Flaschen Wein und Bier abzukaufen. Wir machen das Geschäft unseres Lebens, da sie kein Wechselgeld dabeihat und stossen ebenfalls an. Auf die Lebenseinstellung der Franzosen, auf guten Wein und Sonnenuntergänge.
Am Tag darauf wollen wir die Steilküste erklimmen. Wir landen mit dem Dinghy an und als ich meinen Blick so schweifen lasse, bleibt er plötzlich an einem Schnäbi hängen. Und dann sehe ich noch eins, und noch eins. Komplett bekleidet stehen wir an einem Nudistenstrand. Huch, das haben wir gestern Abend nicht mitgekriegt!
Naja, wir fokussieren dann unsere Blicke lieber auf die abgebrochene Treppe, welche die Klippe hinaufführt, als auf irgendwelche fremden Körperteile. Am Anfang klettern wir eher, als das wir gehen, aber oben angekommen ist die Aussicht spektakulär!
Calanque du Morgiou
Wir ankern am schönsten Platz der Cote d’Azur, nämlich in der abgelegenen Calanque du Morgiou. Wir schnorcheln, erkunden das kleine Örtchen und am Abend liegen wir auf dem Dinghy und zählen Sternschnuppen.
Als wir ins Bett wollen, fällt uns ein Glitzern im Wasser auf. Und da noch eins! Was ist das bloss? Ich erinnere mich an Puerto Rico und die Bucht, welche die höchste Biolumineszenz-Dichte der Welt hat. Da bin ich vor zwei Jahren mit meiner besten Freundin hindurchgepaddelt. Jeder Paddelschlag hatte diese Einzeller bewegt und somit ein Glitzern ausgelöst.
Ich schnappe mir sofort ein Paddel und plantsche damit im Wasser herum – es fängt hier ebenfalls an zu leuchten!! Biolumineszenz im Mittelmeer! Das haben wir alle nicht erwartet. Wir spielen noch eine ganze Weile mit dem Paddel rum und erfreuen uns am nächtlichen Glitzern.
Am nächsten Morgen brechen wir vor Sonnenaufgang auf, um eine weite Strecke unter Segel zurückzulegen.
Der Stierkampf - le cours camarguasise
Nach insgesamt 300sm legen wir mit Nawal in unserem letzten Hafen an. Saintes-Maries-de-la-Mer ist ein altes Zigeuner-Städtchen mit historischem Hintergrund.
Im Zentrum dominiert ein grosses, rundes Gebäude und überall stehen Metallgitter rum. Viele Leute drängen sich auf dem Platz und wir fragen jemanden, was denn da los sei: «Die Stiere kommen heute in die Arena!»
Die ganze Camargue ist da: Kleinkinder, Grosseltern und alle Generationen dazwischen, es herrscht ein riesiger Trubel.
Wir sind jedoch skeptisch. Stierkämpfe sind barbarisch und obwohl wir um die kulturelle Verankerung wissen, wollen wir daran nicht teilhaben. Da erklärt uns jemand, dass die Stierkämpfe der Camargue einen ganz anderen Ansatz verfolgen als die bekannten Corridas aus Spanien.
Hier ist der Stier der Held, er kann gewinnen und seine Trophäen behalten, wenn er den ‘Razedeuren’ geschickt ausweicht. Sein Kopf ist mit Attributen (Blumen, Seidentücher, Kokarden mit den 3 Farben der Manade) geschmückt und die Razedeure versuchen, ihm diese abzunehmen.
Als der erste Stier die Arena betritt, flippt die Menschenmenge aus. Sie bejubeln den Stier, der vom Lärm aufgeschreckt wütend mit dem Huf scharrt.
Da springt ein junger Mann, ganz in weiss gekleidet, zum Stier in die Arena. Er pirscht sich heran und versucht blitzschnell, eine Trophäe vom Kopf des Stiers zu ergattern. Dieser weicht aus und versucht nun seinerseits, den Razedeur auf die Hörner zu nehmen.
So beginnt das Spiel von Angriff und Ausweichen. Teilweise erwischt ein Razedeur eine Kokarde und die Menge applaudiert. Entweicht der Stier mit einem unerwarteten Manöver, tobt die Menschenmenge regelrecht. Man erkennt deutlich, für wen die Franzosen ihre Leidenschaft hegen.
Ein Stier erscheint besonders muskulös und wütend. Die Razedeure pirschen sich auch etwas zaghafter heran - man merkt, hier ist der Stier der Star!
Ein junger Razedeur versucht nun, sich diesem Stier zu nähern. Dieser nimmt sofort die Witterung auf und stürmt mit gesenktem Kopf auf den Mann zu. Diesem bleibt nichts anderes übrig, als die Flucht zu ergreifen. Dabei stolpert er und kracht vor der Bande auf den Boden. Der Stier senkt den Kopf und sticht gnadenlos auf den am bodenliegenden Mann ein. Die Hörner dringen in den Oberschenkel und in den Bauch, überall ist Blut.
Die anderen Razedeure springen sofort in die Arena, um den Stier von seiner Beute abzulenken. Dieser dreht den Kopf und im selben Moment heben zwei weitere Razedeure den Verletzten über die Banden. Er wird sofort abtransportiert und eine Pause wird eingeläutet.
Wir stehen schockiert von unserem Platz auf. Mit vor Schreck geweiteten Augen und sprachlos gehen wir die Treppe runter auf den Vorplatz. Im Hintergrund hören wir die Sirene der Ambulanz.
Unten angekommen erreichen wir die Bar. Da stehen die anderen Razedeure mit ihren Freunden und Familien und trinken mit blutverschmierten Hosen Bier!! Sie lachen und plaudern dabei, scheinbar unbekümmert.
Sehr wahrscheinlich braucht es eine für uns ungewohnte Einstellung zum Thema Verletzung oder Tod, wenn man diesem Beruf nachgeht.
Es ist sehr eindrücklich, eine so andere Lebensphilosophie zu beobachten. Wir denken noch lange darüber nach, während dem wir uns auf den Heimweg machen. Die zweite Hälfte haben wir dann nicht mehr geschaut.
Ausblick
Ein paar Tage später putzen wir auch schon unsere Koje und sagen Nawal Lebewohl!
Valencia nos està esperando!
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